(modern) paper dolls / Anziehpuppen / Ankleidepuppen
Text / Fotos: Jörg Bohn / VG WORT Wissenschaft - Erstveröffentlichung im Sammlermagazin TRÖDLER, Heft 3/2009
Während es sich bei Ankleidepuppen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts um gesuchte Papierantiquitäten handelt, finden entsprechende Objekte jüngeren Datums hierzulande bisher nur bei einigen wenigen Liebhabern Beachtung. Dabei erweisen sich insbesondere amerikanische „Modern Paper Dolls“ als ebenso reizvolle wie aussagekräftige Zeitzeugnisse des „American Way of Life“ und warten förmlich darauf, von einer größeren Sammlergemeinde entdeckt zu werden.
Bereits in den fabulösen Reisebeschreibungen des venezianischen Kaufmanns Marco Polo finden Papierpuppen Erwähnung, die im China des 13.Jahrhunderts jedoch ausschließlich von ritueller Bedeutung sind und im Rahmen von Trauerzeremonien zusammen mit den Leichnamen Verstorbener verbrannt werden. Auch in der japanischen Volksreligion spielen sie eine Rolle: bereits vor über tausend Jahren beschrifteten Menschen papierne „Katashiro“ - Figuren mit ihrem eigenem Namen und Geburtsdatum und rieben diese anschließend über ihren Körper, um sie hernach in einem Boot auf offenes Wasser hinaustreiben und in den Wellen untergehen zu lassen, verbunden mit der Hoffnung, dass Krankheiten und seelische Unreinheiten an den Puppen haften bleiben und gleichfalls versinken mögen. – Als Spielzeug tauchen Puppen aus Papier erstmals im 17.Jahrhundert auf. Bei einem kolorierten Holzstich mit der Darstellung zweier Mädchen inklusive Kleidung, Accessoires und verschiedenen Frisuren zum Ausschneiden aus dem Bestand des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg handelt es sich jedoch um ein Einzelstück, das seiner Zeit offensichtlich voraus war und daher keine unmittelbaren Nachfolger fand. Zwar erfreute sich Papierspielzeug, vor allem in Form von Ausschneidebögen und Klebebilderbüchern, in der Folge zunehmender Beliebtheit, doch sind spezielle Ankleidepuppen erst wieder gegen Ende des 18.Jahrhunderts ein Thema. So berichtet 1791 das „Journal des Luxus und der Moden“: „Eine neue sehr artige Erfindung ist die so genannte englische Puppe, die wir vor kurzem aus London erhalten haben. Es ist eigentlich ein Kinderspiel für kleine Mädchen, aber dabei so artig und geschmackvoll, dass wohl auch Mütter und erwachsene Frauenzimmer gern damit spielen, zumal da man den guten oder schlechten Geschmack, sich zu kleiden und zu coeffieren sinnlich darin zeigen und sozusagen studieren kann.“ Circa 20cm lang sind die bereits fertig ausgeschnittenen Figuren aus starkem Kartonpapier, dazu gehören Kleidungsstücke für alle erdenklichen Anlässe wie „Sommer- und Wintertrachten, vollständige Kleider und Negligés, Chemisen, Pelze, Hüte, Hauben…Das Ganze liegt in einem sauberen Papierumschlage und kann leicht zum Amusement in Gesellschaften und für Kinder bey sich getragen werden.“
Der Durchbruch zum „Volksspielzeug“ gelingt den Ankleidepuppen allerdings erst mit dem Aufkommen fortschrittlicher Drucktechniken im Verlauf des 19.Jahrhunderts. Waren bislang aufwändige Holzschnitt- oder Kupferstichverfahren vonnöten, um die entsprechenden Vorlagen zu vervielfältigen, ist dies nun mit Erfindung und Weiterentwicklung der Lithographie zunehmend kostengünstiger möglich. So werden ab den 1830er Jahren statt teurer Sets mit bereits spielfertigen Puppen und Kleidungsstücken überwiegend preiswerte Bögen zum selbst ausschneiden angeboten. Darüber hinaus sind Ankleidepuppen nun auch in zeitgenössischen Zeitschriften zu finden. Das französische Modejournal „Psychée“ beispielsweise druckt sie, damit sich seine Leserinnen und Leser nach ausschneiden und aufstellen der Puppen einen besseren, weil plastischeren Eindruck der vorgestellten Kleidungsstücke machen können.
Entsprang die äußere Erscheinung der Papierpuppen bis dahin vornehmlich der Phantasie ihrer Zeichner, werden ab Mitte des 19.Jahrhunderts zunehmend „Promis“ abgebildet. Damals populäre Tänzerinnen und Schauspielerinnen leihen den Spielzeugen ihre Gesichter und auch gekrönte Häupter wie Queen Mary, Kaiserin Eugénie oder gar Madame Pompadur, die Mätresse König Ludwig des XV., können nach Belieben an- oder ausgezogen werden.
In Amerika erleben die „Paper Dolls“ zu Beginn des 19.Jahrhunderts ebenfalls eine stetig steigende Nachfrage. Weil aber zu dieser Zeit nur wenige Ankleidepuppen im Land selbst hergestellt werden, importiert man die bewährten europäischen Fabrikate. Erst 1857 produziert mit dem Bilderbuchverlag McLoughlin Brothers ein amerikanischer Hersteller Papierpuppen in nennenswerten Stückzahlen. Da die New Yorker Firma sich jedoch vorwiegend auf Billigprodukte zum Verkaufspreis von fünf bis zehn Cents konzentriert, finden parallel auch immer noch die qualitativ hochwertigen Erzeugnisse renommierter Europäer wie Raphael Tuck aus London, A. Sala aus Berlin oder J. Scholz aus Mainz den Weg nach Übersee. Um 1900 erfreuen sich Ausschneidepuppen einer bis dahin nicht gekannten Verbreitung, schmücken als Kaufanreiz die Warenverpackungen von Kaffee, Schokolade oder Nähgarn und sind in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften zu entdecken. Während in Europa damit ein Höhepunkt erreicht war, der bis heute nicht mehr überschritten wurde, konnten sich die Spielzeuge in Amerika hingegen noch wesentlich länger der Gunst einer großen Käuferschaft erfreuen. So gelten die 1930er bis ausklingenden -50er Jahre in den USA gar als „das goldene Zeitalter der Paper Dolls“. Nicht ganz unschuldig am Zustandekommen dieser Entwicklung ist paradoxerweise die 1929 durch den „schwarzen Freitag“ markierte Weltwirtschaftskrise, die als „Grosse Depression“ das Leben der Amerikaner in den 30er Jahren bestimmen sollte. Ein Arbeitslosenanteil von 25 Prozent und ungezählte Menschen, die in schlecht bezahlten Jobs arbeiteten, sorgten für einen dramatischen Rückgang der Einkommen. Sehr Viele konnten sich nur noch sehr wenig leisten und griffen somit auch beim Spielzeugkauf auf möglichst kostengünstige Erzeugnisse zurück, was gerade auch im Bereich der Paper Dolls zu ungeahnten Verkaufserfolgen führte. Die Papierpuppen werden zu dieser Zeit mehrheitlich in Heftform angeboten. Zwischen zwei Pappdeckeln, aus denen sich die eigentlichen Puppen ausschneiden, oder, sofern vorperforiert, auch ausdrücken lassen, findet sich auf mehreren Innenseiten entsprechendes Ausschneidezubehör aus Papier. Da aber selbst solche Billigobjekte für etliche Menschen offenbar noch zu teuer waren, gab es in vielen Fällen parallel zu den regulären Ausgaben mit den so genannten „jobber books“ sogar noch einmal preisgünstigere Alternativen zu kaufen, deren Umschläge aus dünnerer Pappe bestanden und weniger Seiten im Innenteil aufwiesen.
Thematisch lassen sich die amerikanischen Paper Dolls dieser Jahrzehnte grob in fünf Motivbereiche einteilen. Im Hinblick darauf, dass als Zielgruppe überwiegend Mädchen anvisiert wurden, ist es natürlich nicht weiter verwunderlich, dass die Themengruppe mit Darstellungen von Babys und Kindern ganz besonders stark vertreten ist. Diese wurden von den Zeichnern in der Regel niedlich und lieb, in einigen Fällen aber auch erfrischend keck und munter in Szene gesetzt wurden. So stehen Sally Lou, Dotty Double, Betty Jane, Tammy, Patsy und ungezählten weiteren Kindercharakteren verschiedene zuckersüße Kleidchen zur Verfügung, auszuschneidende Accessoires wie Sandeimer, Schaufel, Wasserball oder Schaukelpferd ermöglichen zudem ihren Einsatz in den unterschiedlichsten Spielsituationen. Auch Märchenfiguren und Sagengestalten nehmen im Paperdolluniversum einen großen Raum ein. Derart konnten Kinder oder jung gebliebene Erwachsene an der Seite eines papiernen Gulliver nach Liliput oder in das Land der Riesen reisen, Cinderellas Hochzeit mit einem Prinzen miterleben, dem in den USA als „Snow White“ bekannten Schneewittchen gegen die böse Stiefmutter beistehen oder sich in die “Wonderful World of the Brothers Grimm“ entführen lassen.
Eine weitere Kategorie bilden Comicfiguren, die vor allem auch in Zeitungen und Zeitschriften zu finden waren. Als Zugabe zu kurzen Comicstrips wie Blondie oder Flash Gordon wurde häufig noch eine entsprechende Ankleidepuppe abgedruckt.
Zudem erschienen eine ganze Reihe von Comics wie „Katy Keene“ oder "Millie the Model“
die sich ausschließlich um das Thema Mode drehten und über die genreüblichen Bildergeschichten hinaus zusätzliche Paper Dolls zu bieten hatten. Weiterhin gab es natürlich auch eigene Ausschneidehefte zu fast allen klassischen Comicfiguren wie Superman oder den diversen Disney-Charakteren.
Als ganz besonders reizvoll entpuppen sich jedoch Paper Dolls, die die Welt der Heranwachsenden und der Erwachsenen abbilden. Im Gegensatz zu vielen Bereichen amerikanischer Kunst und Kultur, in denen sich als Auswirkungen der Wirtschaftskrise sozialkritische Töne und Politisierungen breit machten, handelt es sich bei der zweidimensionalen Welt aus Papier ausnahmslos um eine vollkommen heile, in der die „Grosse Depression“ nicht vorkommt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist dieser amerikanische Blick durch die rosarote nationale Brille von hoher Aussagekraft, wie beispielsweise das Heft „The Family and their Trailer“ der
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Merrill Publishing Company aus dem Jahr 1938 zeigt: Während in John Steinbecks berühmtem, nahezu zeitgleich entstandenen Roman „Früchte des Zorns“ das Schicksal einer Landarbeiterfamilie geschildert wird, die sich auf der Suche nach Arbeit von der durch Dürre gebeutelten Westküste über die mittlerweile legendäre Route 66 bis nach Kalifornien durchschlägt, ist die „Trailer- Family“ offensichtlich in der Lage, sich in ihrem überaus luxuriös ausgestatteten Wohnanhänger eine augenscheinlich nur dem Vergnügen dienende USA – Rundreise zu leisten. Die auf dem Deckblatt des Ausschneideheftes zu bestaunenden Bären lassen im Zusammenhang mit einem Wyoming – Straßenschild vermuten, dass man sich momentan im Yellowstone – Nationalpark befindet, aber an weiteren abgebildeten Schildern ist abzulesen, dass auch der „Sonnenschein-Staat“ Florida und ebenfalls Kalifornien zu den Stationen gehören. Ein Vergleich der von Steinbeck beschriebenen kärglichen Lebens- und Wohnverhältnisse mit dem zur Schau gestellten Trailer-Überfluss gibt Auskunft darüber, in welchem Maße die soziale Schere im Amerika der 1930er Jahre auseinanderklafft. Wer weiß, ob damals nicht vielleicht Kinder, die in ähnlichen wie von Steinbeck beschriebenen Verhältnissen aufwuchsen, ihren Traum von einem besseren Leben sogar beim Anschauen eines solchen Paper Doll Heftes geträumt haben. - Schiebt man derartige Betrachtungen einmal beiseite, bleibt ein ausgesprochen sehens- und sammelnswertes Zeitzeugnis übrig, das auf insgesamt acht Seiten Spielkulissen für die aus dem Pappeinband auszudrückenden Figuren bietet. So hatte das zeitgenössische Kind die Auswahl, ob es „Mother“ und „Dad“ samt Kindern, Baby, Hund und Katze in Wohnzimmer, Esszimmer, einem der zwei Schlafzimmer, Küche, Badezimmer (mit Badewanne!) oder Kinderzimmer des „Raumwunder“ - Wohnanhängers agieren ließ.
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Etwas weniger feudal geht es hingegen bei einer weiteren Trailer-Family zu, die in einem ebenfalls im Jahr1938 erschienenen Ausschneideheft der Saalfield Publishing Company zu finden ist.
Auffällig sind die recht statisch daherkommenden Illustrationen, die trotz zeitgemäßer Kleidung der Puppen noch dem traditionellen Stil vergangener Jahrzehnte verpflichtet scheinen und im direkten Vergleich mit dem zuvor beschriebenen Objekt den Übergang zu einer moderneren zeichnerischen Auffassung und damit zu den „Modern Paper Dolls“ dokumentieren.
In den frühen 1940er Jahren erreichen die Verkaufszahlen der Papierpuppen in Amerika ihren Zenit. Einen nicht geringen Anteil daran besitzen ohne Zweifel die zeitgleich mit dem Eingreifen der USA in den Zweiten Weltkrieg in vielerlei Varianten auftauchenden Ausschneidehefte militärisch-patriotischen Inhalts. Während es scheinbar keine Probleme bereitete, Jungen durch Ausschneide- und Bastelbögen mit Soldaten und Panzern ohne Umschweife für das Kriegsgeschehen zu begeistern, versuchte man den Mädchen diese Angelegenheit über verschiedenerlei Umwege schmackhaft zu machen. Folglich verpackt der weitaus größte Teil derartiger Paper Dolls seine Botschaft in „mädchentypische“ Themen. So dreht sich in Titeln wie “Army and Navy Wedding Party” oder “Military Wedding” das Geschehen ums Heiraten, „Dolls in Uniforms of the U.S.A“ und „Girls in Uniform“ vermitteln, dass er sich auch in militärischem Outfit durchaus weiblich und schick aussehen lässt.
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Ausschneidehefte wie „Army Nurse“ ermöglichen den spielenden Mädchen, sich wie eine Krankenschwester zu fühlen. Auch für die Allerkleinsten ist gesorgt: Im einem Band mit dem Titel „Uncle Sam’s little Helpers“ haben selbst puppenköpfige Kleinkinder und sogar ein „süßes Kätzchen“ offensichtlichen Spaß am Tragen von Uniformen. Ob bei „Victory Paper Dolls“, „Junior Volunteers“, „Our Soldiers – Cut Out Army Uniforms“ oder „Navy Scouts“, stets zeugen die freudig strahlenden Gesichter der Paper Doll Figuren davon, wie schön und befriedigend es offensichtlich ist, im Krieg zu sein.
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